"Wohnungen sind nicht das größte Problem"

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Obdachlose Menschen sollen nach Plänen der Bundesregierung schon bald der Vergangenheit angehören. Zum beschlossenen Aktionsplan gehört auch die Förderung von "Housing First"-Projekten. Bei diesem Ansatz erhalten Obdachlose eine Wohnung - und das bedingungslos. Kann das klappen?

Dass es in deutschen Städten ein Problem gibt, zeigt sich in Einkaufsmeilen, Bahnhöfen, Parks und Hauseingängen: Menschen, die auf der Straße schlafen, sind vielerorts unübersehbar. Auch die Bundesregierung hat den Missstand ins Auge gefasst und einen Aktionsplan beschlossen. Das erklärte Ziel ist ambitioniert: Obdach- und Wohnungslosigkeit soll bis 2030 überwunden sein. Kernpunkt der Strategie ist die Schaffung von mehr bezahlbarem Wohnraum. Mit "Housing First" soll jedoch auch ein vergleichsweise neuer Ansatz verstärkt gefördert werden.

Die Grundidee: Zuallererst bekommen obdachlose Menschen eine Wohnung. Alle weiteren Probleme können danach in die Hand genommen werden. Hilfen erhalten die Betroffenen mit dem Einzug - unverbindlich und solange, wie sie möchten. Düsseldorf und Gießen verfolgen den Ansatz bereits seit 2015, in Städten wie Köln, Stuttgart oder Hamburg laufen Modellprojekte. Das Land Baden-Württemberg hat zuletzt beschlossen, "Housing First" auch in sechs kleineren Städten wie Esslingen, Reutlingen oder Heidelberg zu unterstützen.

Aufschluss darüber, wie das in der Praxis aussieht, gibt ein Besuch im Büro von "Housing First Berlin" im Stadtteil Friedrichshain. "Berlin ist mittlerweile so etwas wie die Welthauptstadt der 'Housing First'-Projekte", sagt Sebastian Böwe im Gespräch mit ntv.de. Er ist verantwortlich für die Wohnungsakquise und sitzt zudem im Vorstand vom "Bundesverband Housing First".

Sebastian Böwe ist seit dem Start der Modellphase von "Housing First Berlin" Teil des Projekts.

(Foto: Privat)

Die Hauptstadt blickt auf mehrere Jahre Erfahrung mit dem Konzept zurück. 2018 lief ein Modellprojekt an, das nach Ablauf der dreijährigen Erprobungsphase im Land Berlin verstetigt wurde. Neben "Housing First Berlin" verfolgen noch fünf weitere Träger in der Hauptstadt den Ansatz, unter anderem mit dem Fokus auf Frauen, queere Menschen oder Familien aus dem EU-Ausland.

Finnland als Vorreiter

Entstanden ist "Housing First" in den 1990er Jahren in New York, zum Vorzeigeprojekt wurde es jedoch in Finnland. Dort setzt die Regierung seit Jahrzehnten konsequent auf das Modell - mit Erfolg. Anders als in den meisten EU-Ländern gehen die Obdachlosenzahlen in dem skandinavischen Land zurück: von mehr als 20.000 Menschen in den 1980er Jahren bis zu nur noch rund 3600 im Jahr 2022.

Allerdings: Die finnischen Träger vermitteln ihre Wohnungen häufig aus dem eigenen Bestand. Der größte, die Y-Foundation, baut ganze Wohnkomplexe und ist zu einem der größten Vermieter des Landes aufgestiegen. In Deutschland, wo dem Bündnis "Soziales Wohnen" zufolge mehr als 910.000 Sozialwohnungen fehlen, grasen die Träger in erster Linie den freien Markt ab. Der Ländervergleich funktioniert also nur bedingt.

"Berlin ist nicht Helsinki", sagt Böwe. "Anders als wir haben die auch nicht diesen Zuzug aus Ost- und Südeuropa." Belastbare Zahlen zur Obdachlosigkeit in Berlin gibt es nicht, bei einer Zählung im Jahr 2020 kam man auf rund 2000 Menschen, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Obdachlos ist zudem nicht gleich wohnungslos. Zu letzterer Gruppe zählt, wer unfreiwillig bei Freunden oder Bekannten unterkommt. Auch Menschen in Notunterkünften fallen darunter, viele von ihnen sind Geflüchtete. In Berlin bezifferte der Senat 2022 die Zahl der Wohnungslosen auf rund 50.000, die Hälfe davon war in Notunterkünften untergebracht.

Bundesweit ging die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) zum Stichtag Ende Juni 2022 von 447.000 wohnungslosen Menschen aus. Die Zahl hat sich vor allem durch die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine im Vorjahresvergleich mehr als verdoppelt. Obdachlos waren 2022 den Schätzungen der BAG W zufolge rund 50.000 Personen. Aktuellere Zahlen gibt es nicht.

Hürden für Hilfen sind hoch

Im herkömmlichen Hilfesystem müssen obdachlose Menschen zunächst ihre "Wohnfähigkeit" unter Beweis stellen, um an eine eigene Wohnung zu kommen. Die Hürden dafür sind hoch: Sie müssen etwaige Suchtprobleme in den Griff kriegen, Behördentermine einhalten und sich im Betreuten Wohnen bewähren. Das sei für viele nicht möglich, sagt Böwe. "Wir nehmen Leute an, die aus eigener Kraft nicht klarkommen."

Zum Start der Modellphase 2018 sei die Skepsis groß gewesen, erzählt Böwe. Der Berliner Wohnungsmarkt ist heillos überlastet, die Konkurrenz entsprechend groß. "Uns wurde gesagt: 'Ihr werdet nicht eine einzige Wohnung für die Leute von der Straße finden. Wer vermietet denn an die?'" Doch er sei hartnäckig, "bis zur Penetranz", sagt Böwe. Unermüdlich telefoniere er herum, organisiere Besichtigungen, leiste Überzeugungsarbeit bei Vermietern.

Inzwischen kooperiere Housing First mit fünf städtischen Wohnungsgesellschaften. "Wohnungen sind bei uns momentan nicht das größte Problem. Wenn wir jemanden aufnehmen, hat der in der Regel innerhalb von vier bis sechs Wochen eine Wohnung, und das oft sogar in seinem Wunschstadtteil." Ein Vorteil für Vermieter: Die Miete ist über das Sozialamt gesichert, die Mitarbeiter von "Housing First" sind als Ansprechpartner stets erreichbar.

Etwa 400 Personen umfasse die Warteliste, derzeit gilt allerdings ein Aufnahmestopp. "Wir könnten zwar mehr Leute aufnehmen, aber wir haben zu wenig Personal für die sozialarbeiterische Betreuung", sagt Böwe. Was fehlt, ist eine langfristige Absicherung. Das Land Berlin finanziert "Housing First" durch Zuwendungen von Haushalt zu Haushalt, in den vergangenen beiden Jahren waren es jeweils 6,1 Millionen Euro. "Wir hätten gerne eine Regelfinanzierung", so Böwe. Der Berliner Senat strebt nach eigenen Angaben zwar an, "Housing First" in das Regelsystem der Wohnungsnotfallhilfe einzugliedern, konkret ist das Vorhaben aber noch nicht.

Fast 200 Wohnungen vermittelt

Im Friedrichshainer Büro von "Housing First Berlin" hängt eine Karte, auf der die Standorte aller vermittelten Wohnungen markiert sind - mitnichten nur am Stadtrand, sondern auch in beliebten Innenstadtvierteln wie Prenzlauer Berg. 69 Wohnungen hat "Housing First Berlin" nach eigenen Angaben seit 2018 vermittelt, das im selben Jahr gestartete Projekt für Frauen sogar mehr als 90. Zusammen mit den anderen, erst vor einigen Monaten gestarteten Trägern sind es laut Böwe insgesamt zwischen 180 und 190 Wohnungen. In den allermeisten Fällen funktioniere das gut, Auszüge gebe es nur vereinzelt.

Die meisten Interessierten meldeten sich initiativ, dann werde bei einem Kennenlernen geschaut, "ob es passt". "Housing First Berlin" spreche aber auch gezielt Menschen in Not an. In das Programm aufgenommen werden kann jedoch nur, wer berechtigt ist, Transferleistungen zu beziehen, die Miete überweist schließlich das Amt. Die meisten Nicht-EU-Bürger unter den Obdachlosen fallen als Kandidaten somit weg.

"Housing First" sei einer von mehreren Bausteinen im Kampf gegen Obdachlosigkeit, sagt Böwe. "Und es beweist, dass es möglich ist, obdachlose Menschen in Würde unterzubringen. Aber ohne mehr Sozialwohnungen lösen wir das Problem nicht." Dennoch hält er es für möglich, dass die Bundesregierung ihr Ziel bis 2030 erreicht. "Obdachlosigkeit ist kein Naturphänomen. Wenn Politik, Immobilienwirtschaft gemeinsam mit sozialen Trägern und der Verwaltung an einem Strang ziehen, lässt sich Obdachlosigkeit dauerhaft beseitigen", sagt Böwe.