Ukraine-General warnt vor möglichem Putin-Vorstoß: „Baltikum in sieben Tagen eingenommen"

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Stand: 07.05.2024, 19:16 Uhr

Von: Karsten-Dirk Hinzmann

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Abwehrbereit: ein estnischer Soldat in seinem Panzerfahrzeug während einer Übung. Die baltischen Staaten bunkern sich jetzt gegen einen möglichen Angriff Russlands ein. Auch der Einsatz von Landminen wird diskutiert. (Symbolfoto) © IMAGO/Jaap Arriens

Konsequenz fordert aktuell ein ukrainischer General: Er befürchtet die aggressive Expansion Russlands. Und dass die Bemühungen der Nato zu spät kommen.

Kiew - „Wir müssen der Ukraine helfen, sich gegen die russischen Panzer und die schwere Artillerie zu verteidigen", hat Vytautas Landsbergis gesagt, Europa dürfe nicht vor Putin kapitulieren, forderte der Politiker in Zeit Online. Das war 2015, und die Wirklichkeit hat dem ehemaligen litauischen Staatsoberhaupt recht gegeben - damals hatte Wladimir Putin gerade die Krim völkerrechtswidrig annektiert. Und den Expansionsdrang des Diktators aus Russland fürchten die Balten nach wie vor. „Wir spüren, dass der Krieg uns nahe ist", zitiert das ZDF Gabrielus Landsbergis. In seinen Befürchtungen bestärkt wird der Außenminister Litauens jetzt durch den ukrainischen Generalmajor Vadym Skibitsky, der damit rechnet, dass Putin das Baltikum innerhalb von sieben Tagen überrennen könnte.

Newsweek berichtet über ein Interview Skibitskys im Economist, in dem der stellvertretende Leiter des Militärgeheimdienstes der Ukraine dem Magazin zufolge vom Westen fordere, Russland entschlossen entgegenzutreten: „Die Russen werden das Baltikum in sieben Tagen einnehmen", sagte er laut Newsweek. „Die Reaktionszeit der Nato beträgt zehn Tage." Skibitsky nimmt den 9. Mai zum Anlass vor Russlands Ambitionen zu warnen - der 9. Mai wird in Russland als „Tag des Sieges" der Sowjetunion über Nazi-Deutschland begangen, wie der Deutschlandfunk berichtet, aber mit einer eigenen geschichtlichen Deutung: Der Staat konstruiere Heldengeschichten, statt an Leid zu erinnern, sagen Thielko Grieß und Florian Kellermann. Laut dem ukrainischen Geheimdienstler Skibitsky würden die Kampfhandlungen in der nächsten Zeit in eine russische Offensive eskalieren.

Schicksalstag: Der 9. Mai könnte Russland zu weiteren Offensiven anstacheln

Er erwarte, dass Russland seinen Plan zur „Befreiung", wie er dem Economist sagte, aller östlichen Donezk- und Luhansk-Regionen der Ukraine forcieren und sein weiteres Vorgehen davon abhängig machen werde. „Die Geschwindigkeit und der Erfolg des Vormarsches werden darüber entscheiden, wann und wo die Russen als Nächstes zuschlagen", sagte Skibitsky. Der 9. Mai könnte nach Einschätzung des Deutschlandfunks Russlands Handeln tatsächlich dynamisieren - Russland befinde sich nach eigenem Denken in der Defensive; das würde auch der russischen Bevölkerung über die verschiedenen Kanäle vom Plakat bis in die Sozialen Netzwerke hinein eingebläut: „Der Nazismus habe diesmal in Kiew Wurzeln geschlagen und erhalte aktive Hilfe aus Warschau, Berlin und Washington. Russland kämpfe nun, wie damals, als Verfechter des Guten gegen das Böse, wozu Entbehrungen für Russinnen und Russen unumgänglich seien", berichten Grieß und Kellermann.

„Die baltische Seite der Grenze wird wahrscheinlich eine der am stärksten befestigten Grenzen in Friedenszeiten weltweit."

Ihnen zufolge sei der Ukraine-Krieg im russischen Denken die Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Krieges", wie der Zweite Weltkrieg in Russland betitelt wird. Das Baltikum könnte nach der Ukraine dann tatsächlich zum zweiten Kapitel nach der Ukraine werden. „Eine Ära der Putinschen Kriege hat begonnen", schrieb der Litauer Landsbergis 2015 in Zeit Online. Die Balten jedenfalls stellen sich darauf ein, ihre Unabhängigkeit verteidigen zu müssen. Am 11. März 1990 erklärte Litauen seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion, am 20. und 21. August 1991 folgten erst Estland und dann Lettland.

Eingangs des Zweiten Weltkriegs hatten Hitler und Stalin durch ihren Nichtangriffspakt Osteuropa zwischen sich aufgeteilt, um in den jeweiligen Ländern ihren Einfluss durchzusetzen, wie die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt: Die Sowjetunion okkupierte demnach das Baltikum, setzte eigene Regime ein und deklarierte das als einen „Beitritt der Länder als sozialistische Sowjetrepubliken der UdSSR, während die baltischen Länder dies bis heute als Besetzung und völkerrechtswidrige Annexion einordnen".

Schicksalsmonate: „Sie wussten immer, dass April und Mai eine schwierige Zeit für uns sein würden"

Der ukrainische Militär Skibitsky sieht jedenfalls schwarz für eine rosige Zukunft seines Landes, wie er dem Economist gegenüber klargemacht hat: „Unser Problem ist ganz einfach: Wir haben keine Waffen. Sie wussten immer, dass April und Mai eine schwierige Zeit für uns sein würden", sagt der Geheimdienstmann und positioniert sich gegenüber seinem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der Friedensverhandlungen mit Russland abgebrochen hatte. Skibitsky spricht sich gegenüber dem Economist für Verhandlungen aus. Sie würden womöglich irgendwann unvermeidbar sein. Die Balten dagegen verstärken offenbar ihren Konfrontationskurs.

Seit Mitte Januar ist klar, dass die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen an einer gemeinsamen Verteidigungslinie arbeiten - eine Kette von Bunkern entlang der Nahtstelle zwischen dem Baltikum und Russland. Als „eine völlig logische Antwort auf die besonderen geostrategischen Herausforderungen" der Balten gegenüber Russland sieht diesen Verteidigungsgürtel Lukas Milevski vom Foreign Policy Research Institute aus Philadelphia. Andererseits äußert der Wissenschaftler den Verdacht, diese Verbunkerung der Grenze dreier Nato-Partner könnte die Russen in ihrer Klaustrophobie gegenüber der Nato noch bestärken und zu einer strategischen, taktischen oder operativen Konfrontation animieren. Oder einfacher: Wladimir Putin könnte sich dadurch um so stärker herausgefordert fühlen.

Schicksalsgemeinschaft: die Balten und die russischen Minderheiten

Grenzprobleme sind schließlich ein Auslöser für die atmosphärischen Störungen der baltischen Staaten zu ihrem Nachbarn; Russland reagiert genauso gereizt auf den baltischen Schulterschluss mit der Nato sowie auf den Status russischer Minderheiten im Baltikum, was letztlich den Streit über die Autonomie der baltischen Staaten immer wieder auf's Neue schürt: Beide Seiten nehmen offenbar gleichermaßen die Außenpolitik der Gegenseite als Bedrohung der jeweiligen Autonomie wahr. Die Bundeszentrale für politische Bildung beziffert 25,6 Prozent der lettischen Bevölkerung als ethnische Russen, in Estland 24,9 und in Litauen 4,8 Prozent - ein möglicherweise attraktiver Grund für Wladimir Putin, im Baltikum ähnlich vorzugehen wie bei der Annexion der Krim 2014.

„Die letzte Hoffnung besteht darin, dass die zunehmende Bereitschaft der baltischen Staaten und des breiteren Bündnisses zum Kampf gegen Russland, zu denen der Bau der baltischen Verteidigungslinie zählt, ausreichen würde, um den Kreml davon zu überzeugen, sich abschrecken zu lassen", schreibt Milevski. Die Welt im Osten Europas hängt im Moment in der Schwebe.

Schicksalsjahr: Im Jahr 2025 sollen die ersten Bunker gegen Russland gebaut werden

2025 soll der erste der geschätzten 600 Bunker gebaut werden, schreibt das Magazin Breaking Defense; daneben werden Depots angelegt für die Lagerung von Material für Panzersperren. Das ZDF spricht von einem „Eisernen Vorhang 2.0". Milevski sagt gegenüber dem ZDF: „Die baltische Seite der Grenze wird wahrscheinlich eine der am stärksten befestigten Grenzen in Friedenszeiten weltweit." Insgesamt rechnen die baltischen Staaten mit einem Marschbefehl der russischen Truppen auf ihr Territorium in höchstens fünf Jahren, beziehungsweise eher in drei. Das hatte die estnische Premierministerin Kaja Kallas der Times gegenüber geäußert. Allerdings wird gleichzeitig bezweifelt, dass Russland die Maßnahmen ohne Reaktion voranschreiten lässt.

Bisher hatte die Nato darauf gesetzt, im Verteidigungsfall zügig Verstärkungen in das Baltikum verlegen zu können. Immer wieder zeigt sich, dass die logistischen Anstrengungen unter Feindeinwirkung herausfordernd sein würden. Der Ukraine-Krieg mache demgegenüber deutlich, dass die Verstärkung der Wälle der baltischen Staaten eine effektive Verzögerung angreifender Truppen bedeuten könnte, schreibt Justina Budginaite-Froehly vom Center for European Policy Analysis in Washington D.C.. Sie spricht von den baltischen Truppen und deren Bemühungen als den „tripwire forces" der Nato, also den Truppen, über die Russland erst einmal hinweg stolpern müsste. Wie das lettische Nachrichtenportal lsm.lv Mitte Januar berichtet hat, habe sich der frühere Oberbefehlshaber der lettischen Streitkräfte im Rundfunk dafür ausgesprochen, dass sein Land aus der Ottawa-Konvention austrete.

Schicksalsfrage: Passt Putin einfach nur den richtigen Zeitpunkt ab?

Raimonds Graube will damit außerhalb der Konvention Handlungsfreiheit haben, sein Territorium mit Landminen beziehungsweise Anti-Personenminen zu sichern; auch weil Russland selbst der Konvention ferngeblieben ist. Graube erklärte im Januar laut lsm.lv, „dass Minen die Vormarschgeschwindigkeit des Gegners verringern können. ,Und im Fall Lettlands halte ich es angesichts der Größe des Territoriums und der anderen Besonderheiten für eine sehr bedeutende Waffe'." Möglicherweise reichen aber auch schon die Bunkeranlagen und geplanten Panzersperren. Lukas Milevski bleibt skeptisch: Ohne dass Putin handelt, könne niemand sagen, warum er ruhig bleibe. Vielleicht sei er abgeschreckt, sagt Milevski, vielleicht sei er tatsächlich desinteressiert oder vielleicht warte er einfach nur den richtigen Zeitpunkt ab.