Lage in der Ukraine: Streumunition gegen die "russische Stadt"
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"Odessa ist natürlich eine russische Stadt." Das sagte Russlands Präsident Wladimir Putin im Oktober 2023. Und legte nach: "Und ein kleines bisschen eine jüdische." Die Sätze über die drittgrößte Stadt der Ukraine fielen als Antwort auf die Frage, welches Visum Touristen in Zukunft beantragen müssten, um Odessa zu besuchen- ein ukrainisches oder ein russisches. Seine Haltung begründete Putin im Dezember mit Odessas Geschichte: Die ganze Schwarzmeerküste sei nach den russisch-türkischen Kriegen Teil Russlands geworden. "Was hat die Ukraine damit zu tun?" Die Ereignisse, auf die sich Putin bezog, liegen mehr als 200 Jahre zurück.
Erst wenige Tage liegt ein Raketenangriff der russischen Armee auf Odessa zurück. Die "russische Stadt" wurde am Montag, erstmals seit Kriegsbeginn, mit Streumunition beschossen. "Es handelt sich um eine wahllose Waffe, die erhebliche Opfer unter der Zivilbevölkerung verursachen kann", teilte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft mit. Sie warf der russischen Armee vor, "so viele ukrainische Zivilisten wie möglich" töten zu wollen. Zum Anschauen benötigen wir Ihre Zustimmung Eine Überwachungskamera filmte den Angriff, zu sehen sind breit gestreute Explosionen, die typisch für solche Munition sind. Noch in anderthalb Kilometern Entfernung vom Einschlagsort fanden Ermittler nach eigenen Angaben Metallfragmente. Sechs Menschen wurden getötet, mehr als 30 verletzt.
Bei der Attacke blieb es nicht. Am Mittwoch schlug erneut eine russische Rakete in Odessa ein und verletzte 14 Menschen. Russische Staatsmedien schrieben von einem angeblichen Waffenlager, das getroffen worden sei. Bei dem Angriff wurde ein Sortierzentrum des Postunternehmens Nowa Poschta zerstört. Schaden nach Angaben des Unternehmens: 904 Pakete im Wert von 75.000 Euro. Zu Kriegsbeginn war befürchtet worden, Russland könne in Odessa Truppen landen. Dazu kam es jedoch nicht, und auch eine Offensive aus nördlicher Richtung scheiterte angesichts der Abwehr russischer Bodenangriffe in der Nachbarregion Mykolajiw. Monatelang konnte Putin die Häfen in Odessa und der nach der Stadt benannten Region blockieren. Doch auch das hielt nicht lange an: Erst öffnete das Getreideabkommen die Häfen, danach tat es die ukrainische Armee mit ihren Angriffen auf die Schwarzmeerflotte. Wie schwierig die Lage für die Ukraine derzeit im Osten des Landes auch ist - eine Eroberung Odessas kann wohl kaum zu den mittelfristigen Zielen Russlands gehören. Odessas strategische Rolle kann die wahllos scheinenden Angriffe nicht wirklich erklären. Odessas symbolische Rolle kann das vielleicht. Die Hafenmetropole war seit ihrer Gründung multikulturell, russisch wird ebenso häufig gesprochen wie ukrainisch. Und die (von Umfragen immer wieder klar widerlegte) Behauptung Putins, russischsprachige Ukrainer wollten zu Russland gehören, begleitet seine öffentlichen Rechtfertigungen des Krieges schon seit dessen Beginn. Es sind besonders die russischsprachigen Teile der Ukraine, die im Krieg am stärksten zerstört wurden. Nicht nur die besetzten Regionen Luhansk und Donezk, sondern auch Charkiw - eine weitere "russische Stadt", deren Vernichtung in Talkshows des Staatsfernsehens gefordert wird, seit ihre Eroberung scheiterte.
Das scheint ein Widerspruch zu sein zu dem "Schutz ethnischer Russen", mit dem Putin den Krieg begründet. Doch wirklich paradox ist das nicht - wie ein Blick auf das (tatsächlich russische) Grenzdorf Kosinka zeigt. Im März haben proukrainische Milizen es zeitweise besetzt. Um sie von dort zu vertreiben, was den Grenzsoldaten nicht gelang, setzte das russische Militär auf Freifallbomben und Artillerie. Die weitgehende Zerstörung des Dorfs durch die eigenen Truppen legt nahe: Im Zweifel bombardiert Putin nicht nur "Russland". Sondern auch Russland. Westlich gelieferte Waffen werden nicht gegen Ziele auf russischem Gebiet eingesetzt - das muss die Regierung in Kiew ihren Unterstützerländern stets zusichern. Doch Großbritannien scheint diesen Grundsatz aufweichen zu wollen. "Die Ukraine hat das Recht dazu", sagte der britische Außenminister David Cameron der Nachrichtenagentur Reuters. Großbritannien beliefert die Ukraine unter anderem mit Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow, die eine Reichweite von etwa 250 Kilometern haben. Zurückhaltender als Cameron äußerte sich zuvor der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. In Bezug auf einen Einsatz der kürzlich erstmals gelieferten ATACMS-Raketen gegen Ziele in Russland sagte er: "Es liegt (an der Ukraine), wie und wann sie sie verwenden sollen." Eine klare Zusicherung, dass die Raketen gegen russisches Gebiet eingesetzt werden können, gab er nicht - ließ die Option aber offen, anders als andere US-Regierungsvertreter, die sie ausgeschlossen hatten. Bei neuen ATAMCS-Angriffen in der vergangenen Woche blieb es bei Angriffen auf russisch besetztes Gebiet. Bei einem Angriff auf ein Trainingsgelände der russischen Truppen im Norden der Region Luhansk nutzte die Ukraine offenbar vier solcher Raketen. Drohnenaufnahmen zeigen einen Aufmarsch von zahlreichen russischen Soldaten sowie mehrere Militärfahrzeuge an dem Ort der Attacke. Der Angriff ereignete sich nahe der besetzten Siedlung Rohowe, etwa 80 Kilometer von der Front entfernt.
Auch auf der Krim sollen ATACMS eingesetzt worden sein. Russlands Verteidigungsministerium berichtete
am Dienstag vom Abschuss von sechs ATACMS-Raketen, ohne den Ort zu
nennen, an dem der abgewehrte Angriff sich ereignet haben soll. Sergei Aksjonow, der Besatzungschef der Krim, warnte tags darauf
vor nicht explodierter Streumunition aus einer abgeschossenen Rakete in
der Nähe des Dorfs Donske bei der Krim-Hauptstadt Simferopol. Die Behauptung kann derzeit weder bewiesen noch widerlegt werden. Donske liegt 20 Kilometer östlich des Hwardijske-Militärflugplatzes bei Simferopol. In einem großen örtlichen Telegram-Kanal wurde von Explosionen berichtet, die in Hwardisjke zu hören gewesen seien. Eine unabhängige Bestätigung des Angriffs gibt es nicht, die Ukraine nahm keine Stellung dazu.
Angegriffen wurde laut Berichten auch der Dschankoj-Militärflugplatz im Norden der Krim, der bereits Mitte April Ziel von ATACMS-Raketen geworden war. Das ukrainische Investigativmedium Schemy berichtete unter Verweis auf Bilder der Satellitenfirma Planet Labs, dass in Dschankoj in der Nacht zum 30. April Militärtechnik zerstört worden sei. Mutmaßlich handle es sich um Komponenten eines S-300- oder S-400-Flugabwehrsystems. Ein solches System ist dort schon Mitte April zerstört worden.
Alle Partnerländer der Ukraine schließen einen Einsatz eigener Truppen auf deren Gebiet aus. Es war Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der diesen Konsens im Februar erstmals infrage stellte. Zwar distanzierte sich die Nato umgehend von Macrons Vorstoß. Auch Frankreichs Außenministerium relativierte die Aussage und stellte rasch klar, es gehe keinesfalls um eine Beteiligung an Kämpfen. Doch nun legte Macron nach: Unter bestimmten Umständen werde er sich mit dieser Frage befassen, sagte er dem britischen Economist am Donnerstag. Etwa bei einem Frontdurchbruch der russischen Truppen.
Die Ukraine ging nie so weit, westliche Länder öffentlich zur Entsendung ihrer Truppen aufzufordern.
Und trotz Macrons Worten gilt ein solcher Schritt nach wie vor als
extrem unwahrscheinlich. Dabei geht es dem französischen Präsidenten
möglicherweise nicht mal darum, tatsächlich Soldaten in die Ukraine zu
schicken. Sondern darum, den Ton gegenüber Putin zu ändern - vom Modus der Beschwichtigung in den der Drohung:
Es sei ein Fehler gewesen, dass sich Europa selbst Grenzen gesetzt habe - im Umgang mit "jemandem, der selbst keine mehr hat", sagte Macron. Beim Umfang materieller Unterstützung gehört Frankreich bisher allerdings selbst zu den zurückhaltenderen Partnerländern der Ukraine: Mit Militärhilfen im Wert von knapp 2,7 Milliarden Euro seit Kriegsbeginn liegt die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU hinter Deutschland, Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden, Polen und Schweden.
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Am Donnerstag feiert Russland traditionell den Sieg der Sowjetunion gegen den Nationalsozialismus mit einer Militärparade in Moskau. Voraussichtlich wird auch Putin dabei sprechen. Es wird die dritte Parade seit Kriegsbeginn sein. Vergangenes Jahr gab er dabei dem Westen die Schuld an seinem Angriff auf die Ukraine, 2022 verglich er den Krieg gegen das Nachbarland mit dem Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland. Beide Narrative sind inzwischen fest in der russischen Staatspropaganda etabliert. Zum Schluss präsentieren wir an
dieser Stelle die besten ZEIT- und ZEIT-ONLINE-Artikel zum Krieg in der
Ukraine aus der vergangenen Woche.
Verfolgen Sie alle aktuellen Entwicklungen im russischen Krieg gegen die Ukraine in unserem Liveblog.
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Wichtigste Meldungen: Erlaubnis aus London, neue Angriffe mit ATACMS
Das Zitat: Wessen rote Linie ist maßgeblich für wen?
Ich schließe nichts aus, weil wir es mit jemandem zu tun haben, der nichts ausschließt.
Emmanuel Macron
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Der Ostcast - :
Dann halt einfrieren
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