„Momentaufnahme eines kranken Systems": Jede vierte Lehrkraft würde den Beruf wechseln - wenn sie könnte

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STUTTGART. Fast jede zweite Lehrkraft in Deutschland sieht an der eigenen Schule psychische oder physische Gewalt unter Schülerinnen und Schülern in problematischem Ausmaß. Das geht aus einer am Mittwoch veröffentlichten, repräsentativen Umfrage der Robert Bosch Stiftung hervor. Danach gaben 47 Prozent der befragten Lehrerinnen und Lehrer an, dass es diese Probleme an ihrer Schule gebe. Andererseits fühlen sich 36 Prozent der Lehrkräfte gleich mehrmals pro Woche psychisch erschöpft - die Stiftung spricht angesichts der Ergebnisse von einem «kranken System».

Der Druck auf die Schulen ist (zu) groß. (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Für die aktuelle Ausgabe des Deutschen Schulbarometers wurden zwischen dem 13. November und 3. Dezember vergangenen Jahres 1608 Lehrkräfte an allgemein- und berufsbildenden Schulen in Deutschland vom Meinungsforschungsinstitut Forsa befragt. Es handelt sich um eine repräsentative Befragung zur aktuellen Situation der Schulen in Deutschland. Die Robert Bosch Stiftung lässt sie seit 2019 regelmäßig durchführen.

Als größte Herausforderung in ihrer beruflichen Tätigkeit sehen Lehrkräfte das Verhalten von Schülerinnen und Schülern. Das sagten bei der aktuellen Umfrage 35 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer. Am zweithäufigsten (33 Prozent) nannten sie den Umgang mit heterogenen Klassen. Gemeint sind damit nach Angaben der Robert Bosch Stiftung Klassen, in denen die Schülerinnen und Schüler individuelle Lernbiografien, unterschiedliche kulturelle und familiäre Hintergründe und unter Umständen auch besondere Förderbedarfe haben.

Demnach geben 68 Prozent der Lehrkräfte an, dass die Qualität des Unterrichts unter der Heterogenität von Schülerinnen und Schülern, also den starken Unterschieden innerhalb einer Klasse etwa bei Leistung und sozialer Herkunft, leide. Nur knapp mehr als die Hälfte der Lehrkräfte gibt an, ihren Unterricht so gestalten zu können, dass er allen Schülerinnen und Schülern gerecht wird.

Mehr als drei Viertel sehen einen Mangel an spezieller Unterstützung für Schüler mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen. Als eine große Belastung nehmen 71 Prozent der Lehrkräfte die Inklusion wahr. Der Aussage, dass Inklusion für alle Schülerinnen gewinnbringend sei, widersprechen 55 Prozent der Lehrkräfte.

«Solche wiederkehrenden Erschöpfungszustände sind ein zentrales Symptom für Burn-out»

Das alles geht nicht spurlos an den Lehrkräften vorüber: 36 Prozent sagten, sie fühlten sich mehrmals pro Woche «emotional erschöpft». Betroffen sind dem Schulbarometer zufolge «vor allem jüngere und weibliche Lehrkräfte sowie Grundschullehrer:innen» . Zwölf Prozent berichten sogar von täglichen Erschöpfungszuständen. «Das sind sehr hohe und bemerkenswerte Zahlen«, sagt Prof. Uta Klusmann, Bildungsforscherin an der Humboldt-Uni Berlin und eine der Autorinnen der Studie: «Solche wiederkehrenden Erschöpfungszustände sind ein zentrales Symptom für Burn-out.»

Bei der Frage, was an den Schulen am dringendsten getan werden müsse, sahen 41 Prozent Handlungsbedarf beim Personalmangel. Dagmar Wolf von der Robert Bosch Stiftung wertete die Ergebnisse der Umfrage als Momentaufnahme eines kranken Systems. Lehrerinnen und Lehrer müssten seit Langem die Folgen des «massiven Personalmangels» ausgleichen und immer neue Belastungen bewältigen. Gleichzeitig werde das berufliche Wohlbefinden in Zukunft enorm wichtig sein, um Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen zu halten und den Beruf für junge Menschen wieder attraktiver zu machen.

Sichtbar wird in der Studie auch, dass sich die Herausforderungen des Schulalltags nur bedingt in dem Inhalt von Fortbildungen, die Lehrkräften angeboten werden, widerspiegeln. So gaben beispielsweise zwar 65 Prozent der Lehrkräfte an, sich in den zwölf Monaten vor der Befragung bei digitalen Medien fortgebildet zu haben. Nur 23 Prozent hatten jedoch Fortbildungen zu pädagogischen Kompetenzen, 21 Prozent zur Klassenführung und 9 Prozent zum Umgang mit einer multikulturellen und vielsprachigen Schülerschaft wahrgenommen.

Dringenden Handlungsbedarf sieht gut ein Drittel auch bei maroden Schulgebäuden: 35 Prozent der befragten Lehrkräfte hielten Investitionen in die Sanierung und Renovierung für notwendig. Der Bedarf ist laut Robert Bosch Stiftung in allen Regionen und sozialen Lagen in etwa gleich hoch. Grundsätzlich zeigt die Umfrage aber auch: Obwohl die Mehrheit (75 Prozent) der Lehrerinnen und Lehrer der Umfrage zufolge zufrieden mit ihrem Beruf und ihren Schulen ist, würden 27 Prozent den Beruf wechseln, wenn sie könnten.

«Es ist erschütternd, dass so viele Lehrkräfte im Alltag verschiedene Formen von Gewalt erleben müssen»

Mit Blick auf die Umfrage sagte die Vorsitzende des Philologenverbandes Susanne Lin-Klitzing, dem Berliner «Tagesspiegel»: «Es ist erschütternd, dass so viele Lehrkräfte im Alltag verschiedene Formen von Gewalt erleben müssen.» Das wachsende Ausmaß von Gewalt an Schulen, der Lehrkräftemangel und der marode Zustand vieler Schulen führten zu zusätzlichem Stress für alle. Deshalb müsse in die Schulen investiert werden.

Auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) nannte die Ergebnisse alarmierend. Es mache deutlich, wie groß mittlerweile der Handlungsdruck in der Bildung sei, sagte sie den Tageszeitungen der Funke Mediengruppe.

«Statt die Situation weiter klein zu reden, sollte seitens der Politik alles dafür getan werden, den Lehrkräften die notwendige Unterstützung zu bieten und engagierte Lehrkräfte im System zu stärken», erklärte Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). «Die Gefahr, dass immer mehr von ihnen den Beruf verlassen und der Lehrkräftemangel sich weiter verschärft, ist nicht von der Hand zu weisen. Hier kann nur mit konkreten Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Lehrberufs gegengewirkt werden. Doch wenn sich etwas ändern soll, müssen wir endlich die Realität akzeptieren und Taten folgen lassen. Ansonsten werden wir in den kommenden Jahren dabei zusehen können, wie sich die Situation an Schulen weiter verschlimmern wird.» News4teachers / mit Material der dpa

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