Touristen-Wut bei Einheimischen immer größer: „Da hilft nur hartes Durchgreifen"

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Der Touristenansturm an vielen Destinationen nimmt drastische Ausmaße an. Reisen entwickelt sich immer mehr zu einem Grundbedürfnis. Einheimische sind genervt von den Scharen an Urlaubern und protestieren. Ein Tourismus-Experte erklärt, was das für den Urlaub in beliebten Regionen bedeutet.

Studien zählen inzwischen global mehr als 100 Destinationen, in denen es wegen eines zu großen Ansturms von Touristen zu Problemen bis hin zu scharfen Protesten der Einheimischen wie kürzlich auf den Kanaren kommt.

Schlagzeilen haben unter anderem die Einführung von Eintrittsgeldern für Venedig, der Kampf gegen den Partytourismus auf den Balearen und der Stopp von Hotelneubauten in Amsterdam gemacht. Auch in Oberbayern hat man Ausflüglern aus München schon mal die Luft aus den Reifen ihrer rücksichtslos geparkten Autos gelassen.

Wird Urlaub in vielen klassischen Regionen immer schwieriger? Wie kann man den Konflikt entschärfen? Kann man Touristenströme umlenken? Dazu hat die AZ mit Professor Jürgen Schmude gesprochen. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Bayerischen Zentrums für Tourismus (BZT) und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft (DGT) sowie langjähriger Lehrstuhlinhaber an den Universitäten Regensburg und München.

Bei den Touristen-Protesten gibt es zwei neue Dimensionen

AZ: Herr Schmude, sind die Ursachen für Proteste gegen Urlauber überall dieselben, nämlich einfach zu viele Besucher?

JÜRGEN SCHMUDE: Es sind nicht die ersten Proteste dieser Art. Es gab sie schon vor der Corona-Pandemie, wenn man etwa an Barcelona denkt...

Oder Oberbayern...

Ja, auch am Walchensee und Tegernsee gab es diese Proteste. Die Proteste richten sich nicht gegen die Touristen an sich, sondern gegen zu viele Touristen. Neu sind dabei zwei Dimensionen: Die Einheimischen nehmen wahr, es ist zuviel. Übrigens hat man dieses Phänomen teilweise auf der Touristenseite auch. Das zweite ist die ökonomische Dimension: Jetzt geht es an den Geldbeutel.

Das kommt zum Beispiel durch Entzug von Wohnraum durch Plattformen wie „airbnb", „FeWo direkt" und andere. Für die Eigentümer ist es attraktiver, kurze Zeit an Touristen zu vermieten statt dauerhaft an die Wohnbevölkerung. Das führt jetzt gerade zum Überlaufen des Fasses.

Führt der Tourismus zur Spaltung der Gesellschaft in den Destinationen zwischen denjenigen, die davon profitieren, und den anderen, die dadurch Belästigungen und Nachteile erleiden?

Nein. Es protestieren durchaus auch Leute, die im Tourismus ihr Geld verdienen, aber die beispielsweise Schwierigkeiten haben, für Mitarbeiter Wohnraum zu finden, die unter gestiegenen Lebenshaltungskosten leiden und Ähnliches.

„Die Situation an Hotspots kann eskalieren"

Sie sagen einen weiteren Anstieg des Tourismus voraus. Kann dann die Situation an bestimmten Hotspots eskalieren?

Ja, das kann eskalieren. Nicht nur ich gehe davon aus, dass der Tourismus weltweit zunehmen wird. Bevölkerungsreiche Länder wie China und Indien sind international noch kaum unterwegs. Da kommt schon noch einiges auf uns zu. Die Frage ist, ob wir in der Lage sind, diese Touristenströme in der Fläche zu verteilen. Overtourism oder Overcrowding tritt ja punktuell auf.

Ist es aussichtsreich, etwa den Erstbesuchern Bayerns Neuschwanstein auszureden und sie stattdessen beispielsweise auf die Nürnberger Burg zu verweisen?

So wird das sicher nicht klappen, aber es gibt schon Destinationen, die in bestimmten Quellmärkten gar kein Marketing machen. Wir sprechen da von Demarketing.

Grölende Sauf- oder Partytouristen? „Da hilft nur hartes Durchgreifen"

Tourist ist nicht gleich Tourist. Es gibt beispielsweise die braven Studienreisenden und die grölenden Sauf- oder Partytouristen. Kann man den vor Ort besonders unbeliebten Partytourismus eindämmen?

Diese Art von Tourismus will keine Destination haben, aber zum Teil haben sie ihn früher selbst durch günstige Angebote gerufen. Da hilft meines Erachtens wirklich nur hartes Durchgreifen, was sich über die Sozialen Medien auch wiederum verbreitet. Barcelona macht das ja schon.

Können sich solche Touristen-Hotspots wie Venedig nicht anders gegen Overtourism wehren als mit Kostensteigerungen und Verboten? Sind Eintrittsgelder und Anlegeverbote für Kreuzfahrtschiffe zielführend?

Ja, auch wenn es manchmal wie eine Verzweiflungstat erscheint, weil man nichts anderes mehr weiß. Der große Abschreckungsfaktor wird dadurch nicht erreicht. Aber es werden Einnahmen generiert, die für den Tourismus und seine Folgen verwendet werden können. Es kommt auf die Art des Tourismus an. In Venedig legen die Kreuzfahrtschiffe ja weiter an, nur an einer anderen Stelle. Da geht es nicht anders als über Restriktionen und Limitierung der Anzahl der Kreuzfahrtschiffe. Venedig hat vor allem mit den Tagestouristen Probleme.

In die Diskussion geraten sind die großen Kreuzfahrtschiffe, von denen ständig neue gebaut werden. Ist der Höhepunkt dieser Art des Tourismus überschritten?

Kreuzfahrttourismus in Deutschland ist - kurzzeitig von Corona unterbrochen - eine 20-jährige Erfolgsgeschichte. Wir haben das Vor-Corona-Niveau wieder erreicht. Ein Kreuzfahrtschiff hat einen extrem langen Lebenszyklus. Von der Planung bis zur Auslieferung vergehen drei bis fünf Jahre und dann ist dieses Schiff 50 Jahre unterwegs.

Die Anbieter werden daher sehr viel dafür tun, damit dieses Marktsegment weiter boomt - notfalls über einen Preiskampf. Das Segment boomt, weil es eine vermeintlich sichere Art von Urlaub ist. Bei Corona hat sich freilich gezeigt, dass diese Massierung auf engem Raum ein echtes Problem sein kann, aber das Gedächtnis der Touristen ist kurz.

Reisen sind in Deutschland zum Grundbedürfnis geworden

Auch die bayerischen Alpen sind in Sachen Tourismus ziemlich unter Druck. Das drückt sich unter anderem in hohen Parkgebühren an Wanderparkplätzen aus. Wie wird es weitergehen? Wird es einfach immer teurer werden? Wird man mit Verboten arbeiten?

Wahrscheinlich wird man um Verbote und restriktive Maßnahmen wie Parkraumbewirtschaftung nicht herum kommen. Ich hoffe aber, dass dies beim Verbraucher ankommt. Dem ist ja auch nicht damit gedient, sich in einer völlig überfüllten Destination zu bewegen. Es gibt jetzt Instrumente zur Lenkung der Besucherströme wie den Ausflugsticker. Man muss die Informationen eben auch an die Touristen heranbringen.

Die Deutschen gelten als Reiseweltmeister. Sie fahren nicht mehr nur einmal, sondern mehrfach im Jahr in Urlaub. Ist das auch ein Grund für Overtourism?

Die Entwicklung geht dahin, dass die Drittreise Standard wird. Auf der anderen Seite wird die Reisedauer der Haupturlaubsreise immer kürzer. Unsere Großeltern sind noch vier Wochen im Sommer weggefahren, heute sind wir bei zwölf Tagen durchschnittliche Aufenthaltsdauer. Die anderen Urlaubstage werden in die Zweit- und Dritturlaube sowie verlängerte Wochenenden gesteckt. Damit werden wir auch in Zukunft konfrontiert sein, weil Reisen sich in Deutschland zu einem Grundbedürfnis entwickelt hat. Bevor man beim Reisen spart, tut man es eher woanders.

Deutsche zieht es meist ins Ausland

Ist das eine deutsche Eigenheit?

Es ist keine deutsche Besonderheit. Der Anteil der Bevölkerung, die mindestens einmal im Jahr eine Urlaubsreise macht - die so genannte Partizipationsrate - ist zum Beispiel in Frankreich und Italien ähnlich hoch.

Bleibt man dort eher im eigenen Land?

Deutschland ist ein Land mit sehr starkem Auslandstourismus. Bei uns gehen rund 70 Prozent der Haupturlaubsreisen ins Ausland, während die Franzosen zu 80 Prozent im eigenen Land bleiben.

Von Ralf Müller